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Seine Geschichte bis zur Gründung des Tänzelfestvereins

Tradition bestätigt sich durch ihre Pflege, aber sie pflegt nicht ihre Bestätigung. 
Aus diesem Grunde verbirgt sich hinter der Frage nach dem Ursprung des Kaufbeurer Kinderfestes nichts weiter als ein akademisches Problem. In der Vielfalt der Erklärungsversuche mag es gelegentlich wünschenswert erscheinen, eindeutige Hinweise auf Anlass oder Ursache einer Tradition zu finden, die über Jahrhunderte bewahrt wurde. 

Aber wie andere soziale Selbstverständlichkeiten sind auch überlieferte Bürgerfeste kein Gegenstand gewissenhafter Dokumentation gewesen. Ungleich aufschlussreicher als der Ursprung, wäre beim Kaufbeurer Tänzelfest eine Übersicht seiner historischen Entwicklung. 

Doch leider sind bis zum Jahr 1805 nur eine Vielzahl von Erwähnungen, aber keine Beschreibungen nachweisbar. 

Es bleibt unklar, welches Wechselspiel historischer Bedingungen die Eigenart dieses Festes gestaltet hat, das uns erstmals 1805 in einer umfassenden Schilderung durch den Lehrer Johann Georg Steudle überliefert ist.
 

Der Ursprung des Festes

Hinweise aus den Kaufbeurer Ratsprotokollen lassen den Schluss zu, dass der Kaufbeurer Tänzeltag bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts zu den Traditionen gehörte, deren Alter das Zeitgedächtnis der lebenden Generation nicht mehr erfassen konnte. Aber mit den einzigen zuverlässigen Quellen für das 16. Jahrhundert verbinden sich nur zwei Feststellungen: Der Kaufbeurer Tänzeltag geht auf die Zeit vor 1557 zurück, war - wie in etlichen anderen süddeutschen Städten - ein Fest der Zünfte und - vielleicht - auch mit den Schulen verbunden. Besonderheiten eines Kinderfestes bleiben im 16. Jahrhundert unerwähnt.

Allerdings stieß die Kaufbeurer Heimatforschung auf ein sonderbares Phänomen. Nahezu alle Kaufbeurer Stadtchroniken des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts berufen sich als Ursprung des Tänzelfestes auf eine Stiftung Kaiser Maximilians I., die er anlässlich eines Besuches am Fronleichnamstag des Jahres 1497 in Kaufbeuren vorgenommen habe. Das ist verführerisch, aber im quellenkritischen Vorbehalt des Historikers nicht beweisbar.

Die vorhandene Überlieferung des 16. und frühen 17. Jahrhunderts gibt also keinerlei Aufschluss, zu welchem Zeitpunkt das Kaufbeurer Kinderfest in Zusammenhang mit den Tänzeltagen der Zünfte eine eigene Tradition entwickelte.

Die erste Erwähnung als Kinderfest

Erst 1658 wird der Tänzeltag eindeutig mit einem Kinderfest in Zusammenhang gebracht. Diese Quelle findet sich in den Konsistorialprotokollen des evangelischen Kirchenarchivs der Dreifaltigkeitskirche. Wir verdanken dieses Dokument einer Kraftprobe zwischen einem als streitsüchtig bekanntem Schullehrer und dem Scholarchat. Die Schulkommission beschließt, dass "der Tänzltag denen Kindern auff die eingehende Woch verwilligt sei".

Mit diesem Fest der Kaufbeurer Schulkinder verbindet sich ein Umzug, der spätestens seit 1689 in einem Wäldchen endete. Die Annahme ist gerechtfertigt, dass der Vergnügungsort der Kinder jener Platz auf der Buchleuthe war, der 1689 zum ersten Mal als "Tänzelhölzle" erwähnt wurde. Mit dem Begriff "Tänzeltag" dürften in diesem Zusammenhang mindestens zwei schulfreie Tage verbunden sein. Der militärische Charakter des Kinderfestes, bis 1914 mit Abwandlungen, aber in Gestaltung und Ablauf unverändert gepflegt, lässt sich auf Eigenarten der Zunftfeste zurückführen.

Das Tänzelfest im 18. Jahrhundert

Das früheste Dokument einer Beschreibung des Festablaufes verdanken wir dem Lehrer Johann Georg Steudle (1763-1841). Wie so oft in der Geschichte erwies sich auch hier der amtliche Nachdruck als Geburtshelfer einer historischen Quelle, denn Steudle verfasste diesen Bericht 1805 auf Veranlassung des später erwähnten Kaufbeurer Stadtkommissars Michael von Weber.

Es dürften kaum Zweifel bestehen, dass Steudles Beschreibung den Verlauf des Tänzelfestes so zusammenfasst, wie er in den Grundzügen während des gesamten 18. Jahrhunderts üblich war:

 

"Das Fest fängt den Montag nach Jacobi, im Falle das Wetter günstig ist, damit an, daß die Singknaben - welche gewöhnlich die Pfeiffer und Tambours vorstellen - am ersten Tag Morgens um 3 Uhr, den Schullehrern, Fähnrichen und Vice Fähnrich mit Trommeln und Pfeiffen eine Art türkische Music vor ihrem Logis machen. Um halb 8 Uhr trommeln  und pfeiffen die 4 Singknaben militärisch gekleidet in der Stadt herum, zum Zeichen daß das Fest gehalten werde, und gehen zuerst zum Fähnrich, bey welchem Sie Kaffee zum Frühstück bekommen, von da dann weg zum Vice Fähnrich gehen, welcher Ihnen mit fliegender Fahne zu Ersterm folgt, nach dem vorher die zwey vornehmsten Officiere abgeholt worden sind.

Zwischen 8 und 9 Uhr versammeln sich die Kinder nach und nach in der Mägdlein Schule, wo Ihnen das aus dem Spithal bewilligte Brod ausgetheilt wird, und die Lehrer der Schulen von einigen Kindern freywillige kleine Geschenke an Geld für die Anordnung erhalten.

Wenn dann alles beysammen ist, so wird der Zug angestellt, und zwar auf folgende Art: 1. Läuffer 2. Feldmusik 3. Feldzimmerleute 4. Jägerchor mit Officieren 5.Fahne mit Fahnenofficier, 6. Tambours und Pfeiffer. Auf diese folgen die übrigen Knaben, theils in militärischer theils bürgerlicher Kleidung.

Den Schluß machen die Mädchen, welche theils in ihren Feyertagskleidern, theils als Schwarzwälderinnen, Bäuerinnen u.s.w. erscheinen.

Sind die Kinder dergestalt geordnet, so geht der Zug von der Schule aus, durch folgende Straßen der Stadt: Hintere Gaße, Markt, Salzmarkt, Schmidt- Neue- und Pfarrer-Gaße ins Spithal. (...) in das so genannte Tänzelhölzle, wo dem Fähnrich eine besondere Huld bereitet ist. Hier beginnt erst für die Jugend der Zweck des Festes: reine, ungestörte Freude, in Erfüllung zu gehen.

Allerley Tänze nach der Trommel, und andere jugendliche Spiele wechseln mit einander ab. So geht es 3 Tage, nur daß am 3ten Tag schon Vormittags ins Tänzelhölzle gezogen und bis Mittag wieder hereinmarschirt wird, wo dann die erwähnte Mahlzeit gehalten und nach derselben wieder wie an den zwey ersten Tagen verfahren wird. War daher einen Tag das Wetter nicht sehr günstig oder wollte man die angefangene Freude noch etwas länger genießen, so war man in der Vorzeit gewiß, auf Anhalten bey dem amtierenden Bürgermeister die Erlaubnis zu erhalten, auch noch den 4ten Tag auf eben die Art wie die 3 vorausgegangenen zu bringen zu dürfen. Dieses ist auch für den arbeitsamen Theil der Bürgerschaft ganz unschädlich, da sich an diesem Tage nur noch Leute im Tänzelhölzle einfinden, die ohnehin nicht arbeiten und dann ihren Spaziergang statt nach abderen Plätzen, dorthin nehmen und für die Kinder, da die ganze Woche ohnehin Schilvacanz ist, ist es immer am besten dort im Freyen sich vor langer Weile schützen zu können.

Die Zeit, wie lange der Jugend Abends im Tänzelhölzle zu bleiben erlaubt ist, war sonst den Lehrern überlassen, nie wurde aber 10 Uhrüberschritten, wo sich auf ein mit der Trommel abgegebenes Zeichen, die Jugend bei der Fähnrichs Hütte einfand, um im Zuge mit fliegender Fahne und klingendem Spiel in die Stadt ging. Hiebei bemerkt man ehrerbietigst: daß der Fähnrich jedesmal es unter dem Thore, bey welchem er Nachts hereinpaßieren wollte, anzeigen mußte, welches dann so lange bis der Zug mit der Trommel hereinpaßiert war, für jedermann unentgeldlich geöffnet blieb, dagegen zahlte der Fähnrich der Wache ein kleines Douceur (Trinkgeld).

In das Tänzelhölzle selbst schaffte der protestantische Kirchenfond während der ganzen Dauer des Festes einige Fäßchen weißes Bier, welches der Knabenaufseher jedem Kinde, das es verlangt unentgeldlich zu trinken giebt."

Das Tänzelfest und der bayerische Verwaltungsstaat

Nach der Mediatisierung der freien Reichsstadt Kaufbeuren 1802 setzte der erzieherische Nachdruck der bayerischen Verwaltung ein. Unter ihrem Misstrauen gegen überlieferte Traditionen hatte auch das Kaufbeurer Tänzelfest zu leiden. Am 11. September 1804 übernahm der gebürtige Kaufbeurer Michael von Weber das städtische Kommissariat. Das Tänzelfest war ihm aus der Jugend vertraut, aber es verband sich bei ihm mit konfessionellen Vorbehalten. Es pflegten sich an diesem Fest nur protestantische Kinder zu beteiligen. Obgleich er das Fest des Jahres 1804 nicht miterlebte, nutzte er sofort seinen amtlichen Einfluss, es auf drei Tage zu beschränken. Den dienstlichen Vorwand bot ihm die eben zitierte Beschreibung des Tänzelfestes, die auf seine Veranlassung durch den Lehrer Johann Georg Steudle angefertigt wurde. Er schrieb an die Landesdirektion in Ulm, dass er es für vernünftig halte, diese "zwekwidrige Kinderfeüerlichkeit" zu verbieten.

Aber dieser vorgesetzten Behörde schienen Webers "gesunde Polizeygrundsäze" nicht sonderlich sympathisch zu sein. Sie gestattete die Ausdehnung auf vier Tage. Allerdings mit der Auflage, dass künftig das Fest paritätisch zu feiern sei. Dieser Regierungswille führte erst fünf Jahre später zu einem Ergebnis. Am Tänzelfest 1810 beteiligten sich sowohl protestantische als auch katholische Kinder. Es lässt sich keine vernünftige Erklärung für die Tatsache finden, warum dieses paritätische Fest Episode blieb.

Mit der Neugestaltung (1820-1832) und dem Bau der Bürgerhäuser (1821) waren dem Tänzelhölzchen neue Nutzungsmöglichkeiten zugefallen. Das Tänzelfest der Kinder lief Gefahr, hinter anderen Formen bürgerlicher Betriebsamkeit zurückzutreten. Der Magistrat und die evangelische Lehrerschaft waren also gefordert, für das Tänzelfest ein neues Selbstverständnis zu suchen. Die Stadt hatte sich ohnehin mit einem sozialen Problem auseinanderzusetzen: dem ständigen Zuwachs katholischer Kinder. Ihre Einbindung in die städtische Tradition musste schon deshalb als wünschenswert erscheinen, weil sich die Anzeichen sozialer Zerklüftung häuften. Dem Tänzelfest als protestantische Besonderheit drohte das Schicksal, in seiner Exklusivität zu verkümmern.

Die Wolff-Affäre

Am 12. Juli 1850 richtete der Magistrat ein Schreiben an die katholische Lokalschulinspektion. In diesem Brief erläutert der Magistrat ausführlich, dass keinerlei Verbindung von Tänzelfest und Reformation bekannt sei und "diese Scheidung der Kinder aus konfessionellen Rücksichten den Keim der Intoleranz in sich trägt". Schon einen Tag später liegt das Antwortschreiben des Rektors Fuchs vor. In unbekümmerter Dialektik stellt er fest, dass "ungeachtet vielfacher Erkundung" keinerlei Urkunden vorliegen, die den protestantischen Ursprung des Festes widerlegen. Er scheut sich allerdings nicht, eben das zu fordern.

Am 10. Juni 1852 wiederholt der Magistrat seine Bitte, katholischen Kindern die Mitwirkung zu gestatten. Warum diese Bemühungen des Magistrats, ein paritätisches Tänzelfest herbeizuführen, ein Jahr später dramatische Entwicklungen entstehen ließen, gehört zu den Rätseln konfessioneller Zwietracht.

Am 18. Juli 1853, also mit Vorbedacht eine Woche vor Beginn des Festes, eröffnet der Stadtkommissar Franz Seraph Wolff in einem betont unfreundlichen Brief dem Kaufbeurer Magistrat seine Sicht der Dinge: Das Tänzelfest schildert er als "bacchanalische" Entgleisung. Auf seine Dienstbeschwerde entschied die Regierung des Oberdonaukreises in Augsburg in ungewöhnlicher Eile (23. Juli 1853). Neben anderen drastischen Einschränkungen wurde angeordnet: "Öffentliche maskierte Aufzüge von Kindern sind zu verbieten." Damit erhielt Wolff den erwünschten "Verhaltungsbefehl", mit dem er das Tänzelfest beseitigen konnte. Er unterschätzte allerdings die Entrüstung der protestantischen Bürger und die Entschlossenheit des Magistrats, energischen Widerstand zu leisten. Diese wirkungsvolle Aktion hatte ein Regierungsschreiben vom 29. Juli zur Folge, in dem die Feier des Festes am 30. Juli gestattet wurde.

Am 21. Oktober 1853 erhielt die Regierung umfassende Vorschläge des Magistrats zur Neuordnung des Tänzelfestes. Man wolle "das Fest darauf zurückführen, was es ursprünglich gewesen ist, nämlich auf ein paritätisches, von beiden Konfessionen gefeiertes Kinderfest." Es soll drei Tage dauern, dem bisherigen Ablauf entsprechen und von der Neuerung begleitet sein, dass die Fähnriche "abwechslungsweise aus den Knaben katholischer und evangelischer Konfession gewählt werden". Nachdem diese Vorschläge am 21. Januar 1854 von der Regierung bestätigt wurden, blieb auch der katholischen Lokalschuldirektion nichts Anderes übrig, als Willfährigkeit zu zeigen. Aber das Hemmnis konfessioneller Vorurteile widerstand auch dem Regierungswillen. Katholische Kinder blieben dem Fest fern. Nach 1810 war also ein zweiter Versuch gescheitert, das Tänzelfest paritätisch zu gestalten.

Aufschwung und erneuter Niedergang des Festes

Mitunter kann sich bürokratischer Nachdruck als heilsam erweisen. Die evangelische Lehrerschaft wurde daran erinnert, dass Tradition im Stillstand des Denkens ihre Berechtigung verliert. Sie braucht für ihre Pflege nicht die Gewohnheit, sondern den Gestaltungswillen. Der Lehrer Johann Jakob Zech äußerte sich öffentlich und machte im Wertach-Boten vom 20. Juli 1858 etliche, schon ein Jahr später umgesetzte Reformvorschläge, die vor allem der patriotischen Versammlung dienen sollten: Die Uniformen der Knaben wurden dem bayerischen Waffenrock angepasst. Aus dieser "Garde" formte sich später eine militärische Hierarchie, die mit Generalstab, Oberst und Fähnrichen heute noch vorhanden, aber bedeutungslos geworden ist.

David Ignatz Walch führte 1867 dem Tänzelfest einen besonderen Glücksfall zu: Die Tänzelfest-Knabenkapelle. Er hatte in Aichach schon eine ähnliche Formation begründet und wurde von Bürgermeister Carl Haffner unterstützt. Es gelang ihm, innerhalb von zwölf Jahren eine dreißig Knaben umfassende Blaskapelle zu schaffen.

In den Folgejahren empfing das Tänzelfest keine neuen Impulse. Es verflachte zum Gewohnheitsereignis, das immer wieder unter der mangelhaften Beteiligung der Kinder zu leiden hatte. Erst eine Initiative des Bürgermeisters Carl Stumpf im Jahre 1890, die zur Gründung des "Vereins zur Hebung des Tänzelfestes" führte, hatte für das Kaufbeurer Kinderfest zukunftsweisende Bedeutung. Von nun an lässt sich sein Schicksal von der Geschichte des "Tänzelfestvereins" nicht mehr trennen.

 

(Leser, die sich gründlicher informieren wollen, seien auf folgende Quelle verwiesen: Jürgen Kraus, Die Unantastbarkeit der Tradition. Das Kaufbeurer Tänzelfest. In: Die Stadt Kaufbeuren. Monographie in Fortsetzungen, Bd2, Kunstgeschichte, Bürgerkultur und religiöses Leben, Thalhofen 2001, S 196ff)